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Surveillance Day  (Überwachungstag)


Der 14.12.2005 wird uns lange in Erinnerung bleiben. Möglicherweise erhält er auch einen Namen, vielleicht "Surveillance Day" oder "Retention Wednesday". Seiner Bedeutung wäre es angemessen, hat er doch mit einem Schlag vor Augen geführt, wie wenige Abgeordnete sich angemessen mit ihrer Arbeit beschäftigen und wie wenig ihnen das Wohl ihrer Schutzbefohlenen, nämlich uns, ihrer Bürger und ihrer Wähler am Herzen liegt.

Was ist passiert?

Das EU-Parlament hatte über eine Richtlinie zur Telekomunikations-überwachung zu entscheiden. Obwohl der Inhalt einigen Sprengstoff aufweist, lief der Entwurf in denkbar kurzer Zeit durch alle Lesungen und wurde schliesslich am Mittwoch den 14.12.2005 mit den Stimmen der konservativen und der sozialdemokratischen Fraktionen beschlossen.

Der Inhalt:

Von jeglicher Form der elektronischen Kommunikation werden für mindestens 6 Monate und höchstens zwei Jahre (in Ausnahmefällen mehr!) Europa-weit die Verbindungsdaten gespeichert. Verbindungsdaten sind:
- bei Festnetz-Telefon und -Telefax: anrufende und angerufene Nummer, Zeitpunkt des Anrufs.
- bei Handys und SMS: anrufende und angerufene Nummer, Zeitpunkt des Anrufs, Lage des nächsten Mobilfunkmastes bei Beginn und Ende des Anrufs.
- bei E-mail: Absender und Adressat, Zeitpunkt der Absendung
- bei Internet-verbindungen (=surfen): IP-Adressen der Benutzerrechners und des besuchten Servers, Zeitpunkt des Besuchs.

Falls Sie also mal vergessen haben, wann Sie zuletzt Ihre Freundin angerufen haben, fragen Sie einfach die Datensammelstelle, die können ihnen dann auch sagen von wo aus Sie telefoniert haben.

Wofür sollen die Daten verwendet werden?

Die Daten werden der Polizei zur Verfügung gestellt, zur Verhinderung und Verfolgung schwerer Straftaten. Das Dumme: Es sind zwar Terrorismus und organisierte Kriminalität aufgeführt, eine Erweiterung ist aber möglich (und wahrscheinlich). Dabei steht vor allem die Musik- und Film-Branche schon in den Startlöchern, weil sie mit diesen Daten Tauschbörsen- und File-sharing-Benutzer ermitteln kann.

Wer denkt das ist doch nicht schlimm, dem möchte ich die gleiche Situation in einer nicht-elektronischen Welt vor Augen führen:
Bis zu zwei jahre lang wird gespeichert, welche Bücher und Zeitschriften man wie lange und wo gelesen hat. Es wird gespeichert wann und wo man mit seinen Freunden geredet hat. Wieviele Briefe man wann wem geschrieben hat. Mit diesen Angaben kann man feststellen wann man zu Hause und wann im Bus ist, wann man im Büro ankommt. Wie oft man Theaterkarten oder Pizza bestellt. Bei welchen Firmen man Waren bestellt. Wann und wie lange man wo im Urlaub ist. Der gläserne Bürger wird damit zur Realität.

Der Nutzen:

Offiziell sollen die Daten zur Bekämpfung des Terrorismus und der schweren (organisierten) Kriminalität dienen. Das ist, gelinde gesagt, Unsinn. Gegen den Versuch, durch die Telefondaten von 450 Millionen EU-Bürgern die vielleicht 200-500 wirklich gefährlichen Personen herauszufinden, ist die Suche nach der Nadel im Heuhaufen wohl eine Kleinigkeit. Es ist viel erfolgversprechender mit diesen Daten die Kleinkriminellen zu fangen, sprich: Tauschbörsen-benutzer und Gelegenheitskopierer. Dafür nimmt man doch gern die Komplett-überwachung des gesamten Volks auf sich.

Bewertung

Was mich besonders ärgert ist die Gleichgültigkeit unserer Volksvertreter. Wer sich nur ein bißchen mit der Vorlage beschäftigt, muss doch einige Dinge merken:

Artikel 5 GG (Grundgesetz): "Jeder hat das Recht seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und sich aus allgemein zugänglichen Quellen ungehindert zu unterrichten." Die generelle Protokollierung des Zugangs zu Internet-quellen steht dem ganz entschieden entgegegen. Wer sucht denn noch nach Informationen über den Islam, wenn die Polizei von jeder Webseite erfährt, die man aufsucht. Erwischt man die falsche, steht bald ein Bus mit den Schlapphüten vor der Tür.

Artikel 10 GG: "Das Briefgeheimnis, sowie das Post- und Fernmeldegeheimnis sind unverletzlich. Beschränkungen sind aufgrund eines Gesetzes möglich." Wie verträgt sich das mit der generellen Protokollierung von E-mail und SMS? Auch dass ein Brief überhaupt versendet wurde, ist eine Information, die unter Artikel 10 fällt, erst recht wohin er geschickt wurde und wieviel Inhalt er hatte. Dass der Inhalt selbst nicht gespeichert wird, ist kein Trost.

Artikel 21 GG: "Parteien, die nach ihren Zielen oder nach dem Verhalten ihrer Anhänger darauf ausgehen, die freiheitliche demokratische Grundordnung zu beeinträchtigen oder zu beseitigen ... sind verfassungswidrig". Nun, hier überlasse ich dem Leser die Bewertung, für mich ist die generelle TK-Überwachung aber bereits hart an der Grenze.

Es ist mir klar, dass in begründeten Fällen, eben den schweren Straftaten, davon abgewichen werden muss, aber rechtfertigt das die generelle Bespitzelung von 450 Millionen Menschen? Hat das Wort 'Privatsphäre' denn überhaupt keine Bedeutung mehr?

Und was ist von einem Volksvertreter zu halten, dem so etwas entweder nicht auffällt, oder der es einfach ignoriert?

Es heißt dazu immer "Ist notwendig für den Kampf gegen den Terrorismus", aber dieses Argument trifft einfach nicht zu. Einige Beispiele:
In den großen Anschlägen der letzten Jahre (New York 2001, Bali 2002, Djerba 2002, Madrid 2004 und London 2005) sind etwa 3500 Menschen umgekommen, davon 3000 allein in New York. Innerhalb von 5 Jahren. In Deutschland sterben jährlich 6000 Menschen im Strassenverkehr. Würde die Politik gegen den Verkehrstod so energisch vorgehen wie gegen den Terrorismus, dürften Autos nur noch im Schritt-tempo fahren.
In Bali und Djerba starben 20 Deutsche. In Deutschland sterben jedes Jahr 30-40 Frauen während der Schwangerschaft. Ist es nun gefährlicher in Urlaub zu fahren oder schwanger zu werden?
Ein Blick in die Kriminal-statistik 2004 zeigt, dass es im letzten Jahr in Deutschland 800 Mordopfer gab. So viele Terrorismusopfer hatte Deutschland nicht mal in den letzten 20 Jahren zusammengenommen. Die meisten Mordopfer kannten überdies ihren Mörder und duzten ihn sogar oder waren mit ihm verwandt. Die wirkliche Gefahr droht also wohl eher vom Ehepartner als von Al-Quaida.

Das soll keine Verharmlosung des Terrorismus sein, es soll nur die Verhältnisse zurechtrücken. Terrorismus ist hier zu Lande keine Volksbedrohung, sondern vor allem eine Medien-kampagne zur Verbreitung von Angst.

Man kann den Terrorismus auch als Geschenk Gottes an die Innenminister deuten, die damit ihre Überwachungs-fantasien ausleben können. Und besonders dämliche Sprechblasen absondern können wie z.B. Schäuble über die Entführung von Susanne Osthoff im Irak: "Wir sind in Deutschland nicht vor dem internationalen Terrorismus sicher."
Hallo? Die Frau war im Irak unterwegs, wurde von irakischen Terroristen / Freiheitskämpfern / Gangstern (unpassendes bitte streichen) entführt und befindet sich immer noch auf irakischem Boden. Was ist daran international? Und wie hätten schärfere deutsche Gesetze das verhindern sollen?
Nur nebenbei: wie nennt unser Innenminister eigentlich die Entführung eines Deutschen durch Amerikaner nach Afghanistan?

Aber das ist schon Ok, schliesslich kann man mit den bösen Terroristen so gut begründen warum die Grundrechte wieder mal ein beschnitten werden müssen. Und noch ein bißchen. Und diesmal gleich richtig kräftig.

Es wird Zeit dass das wieder rückgängig gemacht wird. Grundrechte, Meinungsfreiheit und Demokratie gibt es nämlich nicht umsonst, man muss sich um sie bemühen und sie immer wieder neu mit Leben füllen. Es ist falsch, sie jetzt für einen nicht spürbaren Sicherheitsgewinn zu verschleudern, wo unsere Vorfahren auf die Barrikaden gegangen und ihr Blut gegeben haben, um sich diese Rechte zu erkämpfen.

Was kann man tun?

Es gibt mehrere Wege, alle erfordern zwar einen langen Atem, es lohnt sich aber. Schliesslich sollen Ihre Kinder in Freiheit aufwachsen und sich nicht später mit dem Art. 20/4 GG rumschlagen müssen.


Anhang:

Das Abstimmungsergebnis der TK-Überwachung am 14.12.2005. Es waren mehrere Varianten vorgeschlagen, deswegen gibt es auch mehrere Voten pro Abgeordneten.
Rote Farbe: Zustimmung zur Überwachungsvariante.
Grüne Farbe: Ablehnung der Überwachungsvariante.
d.h. je mehr grüne Kästchen pro Zeile, desto besser. Optimal: alles grün.

Wie oben kurz erwähnt haben Konservative und Sozialdemokraten im Allgemeinen für die Überwachung gestimmt, Liberale und Grüne dagegen (ich mag die FDP eigentlich nicht, aber hier muss ich ihr ein dickes Lob aussprechen, insbesonders Herrn Alvaro, der sich bis zuletzt um eine Entschärfung der Richtlinie bemühte).

Meine Bitte an Sie: Suchen sie ihren Europa-Abgeordneten heraus und schreiben Sie ihm eine höfliche, aber bestimmte E-mail, in der Sie sein Abstimmungsverhalten kritisieren (natürlich nur bei mindestens einem roten Eintrag). Machen Sie ihm klar dass er seine Verpflichtungen gegenüber seinen Wählern ernster nehmen, und Kosten und Nutzen eines Gesetzes genauer abwägen muss. Es empfiehlt sich außerdem eine eindeutige Betreffzeile, etwa 'Danke für ihren Beitrag zum Überwachungsstaat', 'TK-Überwachung: StaSi grün vor Neid' oder ähnliches.

Auch eine E-Mail an die Bundestags-Abgeordneten ist nicht verkehrt, auch diese dürfen unseren Unmut spüren. Nur: lassen sie sich damit nicht zu viel Zeit, die nächste Gesetzesinitiative lässt bestimmt nicht lange auf sich warten.

Autor: Werner Schmidt
Email: werner.schmidt@wummer.net

Kontakte:

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Parteien

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Meinung der FDP im Bundestag
Bericht der Grünen zur Vorratsspeicherung
Antrag der Grünen im Bundestag zur Verhinderung der Vorratsspeicherung

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